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Anfahrt ins Kehrwasser mit dem richtigen Winkel, ordentlicher Beschleunigung und entsprechender Körperhaltung |
Da vorne rechts ist das Kehrwasser, das ich erwischen will. Frühzeitig peile ich es an und mit kräftigen Paddelschlägen beschleunige ich mein Packraft. Jetzt durchstößt mein Boot die Verschneidungszone, der Bug wird von der Kehrwasserströmung erfasst. Ich kante mein Boot etwas und lasse es vollends ins Kehrwasser laufen. Ganz von selbst dreht mein Packraft, schießt sogar noch ein wenig stromauf. Ohne irgendeinen überflüssigen Paddelschlag, geschweige denn eine Paddelstütze stehe ich jetzt schulbuchmäßig im Kehrwasser.
Kehrwasserfahren ist das A und O beim Wildwasserpaddeln. Vom Kehrwasser aus startet man die Fahrt, ins Kehrwasser flüchtet man sich vor der unfahrbaren Stufe, von Kehrwasser zu Kehrwasser tastet man sich den unübersichtlichen Katarakt hinunter. Ohne Kehrwasserfahren geht beim Wildwasserpaddeln also gar nichts!
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Das Momentum zur Überwindung der Verschneidungslinie kann nicht stark genug sein |
Was ist eigentlich ein Kehrwasser?
Das Kehrwasser ist eine Strömung, die entgegengesetzt zur Hauptstömung fließt und sich hinter Hindernissen wie z.B. Felsblöcken bildet. Den Bereich, der die Hauptströmung vom Kehrwasser abgrenzt, nennt man Verschneidungszone. Die Verschneidungszone kann eine schmale, definierte Linie sein, die das Kehrwasser ganz klar von der Hauptströmung trennt. Sie kann aber auch sehr breit sein, mit chaotischen, verwirbelten Strömungen.
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Manchmal wird es eng im Kehrwasser, gerade für so aufgeblasene Typen |
Drei Faktoren
Wer in ein Kehrwasser einfahren will, muss auf drei Faktoren achten:
1. Fahrt aufnehmen: Je größer der Strömungsunterschied zwischen Kehrwasser und Hauptströmung; und je breiter die Verschneidungszone ist, desto schneller muss gepaddelt werden. Bin ich zu langsam, wird nur der Bug von der Kehrwasserströmung erfasst, aber es fehlt das Tempo, um mit meinem Boot ganz ins Kehrwasser vorzustoßen. Mein Boot dreht zwar, hängt dann aber entweder in der Verschneidungszone oder wird rückwärts abgetrieben.
2. Einfahrtswinkel: Auch hier gilt die Abhängigkeit von der Größe des Strömungsunterschiedes und der Breite der Verschneidungszone. Je größer Strömungsunterschied und Breite, desto spitzer muss der Winkel sein, mit dem ich ins Kehrwasser einfahre. Paddle ich mit zu stumpfem Winkel an (komme ich zum Bei spiel genau von der Seite = 90°) dreht es mich nur ab, ohne ganz ins Kehrwasser zu kommen.
Ein Fehler, der hier häufig gemacht wird: Man dreht das Boot erst im letzten Moment in Richtung Kehrwasser und das dann meistens mit einem Konterschlag, weil der am wirkungsvollsten ist. Allerdings ist jetzt der ganze Dampf weg und es geht wieder nichts.
Also immer vorausschauend fahren und rechtzeitig die richtige Richtung einschlagen.
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Pausentaste betätigt. Ein Kehrwasser ist immer Ruhepol und Kraftspender. |
Was aber tun, wenn man um einen ungünstigen Anfahrtswinkel nicht herumkommt, weil Walzen oder andere Hindernisse die Optimalroute versperren? Ist der Anfahrtswinkel zu spitz, Gas wegnehmen und kurz vor Kehrwassereinfahrt mit einem kräftigen Bogenschlag wieder Fahrt aufnehmen und die Richtung korrigieren.
Bei zu stumpfen Winkeln hilft schlicht und einfach nur beschleunigen bis zur Höchstgeschwindigkeit.
3. Boot kanten: Stimmen Richtung und Geschwindigkeit, lässt man sein Boot ins Kehrwasser gleiten. Sobald der Bug die Verschneidungszone durchbricht, kantet, d.h. kippt man das Boot in Drehrichtung, um ein Auflaufen von Oberwasser und die damit verbundene Kenterung zu verhindern.
Wie stark gekantet wird, hangt von der Drehgeschwindigkeit ab – und diese wiederum vom Geschwindigkeitsunterschied von Hauptströmung und Kehrwasser. Je größer der Unterschied, desto höher die Drehgeschwindigkeit, desto starker wird gekantet. Bei hohen Drehgeschwindigkeiten muss zusätzlich der Oberkörper mit in die Kurve (aus)gelegt werden. Richtiges Kanten ist Gefühls- und Erfahrungssache...
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Eingeparkt. Vom Kehrwasser hat man idealerweise einen guten Überblick und Kommunikationslinien mit seinen Partnern. |
Kehrwasser-Telegramm
1. Boot beschleunigen: Je breiter die Verschneidungszone und je größer die Strömungsunterschiede, desto höher muss die Geschwindigkeit sein
2. Einfahrtswinkel: Rechtzeitig den richtigen Einfahrtswinkel festlegen: Je breiter die Verschneidungszone, je größer die Strömungsunterschiede, desto spitzer der Einfahrtswinkel
3.Kanten: Boot ins Kehrwasser laufen lassen, dabei Kanten und gegebenenfalls Oberkörperauslage (je schneller die Drehgeschwindigkeit, desto stärker Kanten und Auslage). Paddel in Bereitschaftshaltung, nur im Notfall stützen
4. Kleine Kehrwasser: Drehradius durch Ziehschlag verkleinern
5. Breite Verschneidungszone: Bogenschlag (auf der Kurveninnenseite) für zusätzliche Beschleunigung und zur Vorbeugung gegen vorzeitiges Abdrehen
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Beschleunigung und Anfahrt ins Kehrwasser kann man auch auf dem See üben. Hier sieht man gut wie die Kanten vom Heck greifen. |
Extremfälle
Wenn alle drei Faktoren optimal aufeinander abgestimmt zum Einsatz kommen, läuft das Boot wie geschmiert ins Kehrwasser. Allerdings gibt es auch Situationen, bei denen man noch ein bisschen mehr tun muss, um sein Kehrwasser perfekt zu erwischen.
1. Das Kehrwasser ist sehr klein: Hier muss man den Drehradius verkleinern, und zwar mit einem Ziehschlag. Häufig wird der Ziehschlag viel zu früh, d.h. noch in der Hauptströmung ausgeführt. Das bremst die Fahrt und ist nicht besonders wirkungsvoll. Also, ganz wichtig: Erst das Boot ins Kehrwasser laufen lassen und dort zum Ziehschlag ansetzen.
2. Die Verschneidungszone ist sehr breit: Und zwar so breit, da mein Schwung auch bei Höchstgeschwindigkeit nicht ausreicht, um bis ins sichere Kehrwasser vorzudringen. Mit einem Bogenschlag auf der Kurveninnenseite erreiche ich zweierlei: das Boot wird nochmals beschleunigt, einem vorzeitigen Abdrehen wird vorgebeugt. Die gleiche Technik wird angewandt, wenn man sehr tief in ein großes Kehrwasser einfahren will. In beiden Fällen zahlt sich das vorher angeeignete „Kurvengefühl“ aus. Nur wer beim Kehrwasserfahren ohne Paddelstütze auskommt, kann einen
Zieh- oder Bogenschlag effektiv ausführen.
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Der Trick für kleinere Kehrwasser ist über die Verschneidungslinie und im Kehrwasser einen Ziehschlag anzusetzen (The Packraft Handbook von Luc Mehl). |
Augenmaß
Jetzt stellt sich noch die Frage, wo man am besten ins Kehrwasser einfährt. Beherrscht man die Technik des Kehrwasserfahrens, nimmt man einiges vom Schwung der Einfahrt mit ins Kehrwasser und schießt dadurch sogar noch ein gutes Stück stromauf. Bei einem besonders stark ausgeprägten Kehrwasser sollte dieser Effekt unbedingt berücksichtigt werden, indem man etwas weiter unten einfährt. Wer zu weit oben ins Kehrwasser schießt, rammt mit Sicherheit das Kehrwasser-verursachende Hindernis.
Bei einem kleinen, schwachen Kehrwasser liegt die Sache umgekehrt. Wer nicht abtrudeln will, drückt sich gleich ganz oben ins Kehrwasser, Das gleiche gilt für ein Kehrwasser mit sehr breiter Verschneidungszone.
Wieder zurück
Egal, ob ich von der Hauptströmung in ein Kehrwasser einfahre, oder vom Kehrwasser in die Hauptströmung - die Spielregeln bleiben fast die gleichen! Fast...
Startet man vom Kehrwasser aus in eine sehr schnelle Strömung, liegt die Schwierigkeit darin, weit genug hinauszukommen. Hier bedient man sich einer Technik, die dem Boofen sehr ähnlich ist: Letzter, kräftiger Paddelschlag kurz vor Verlassen des Kehrwassers und zwar auf der Kurveninnenseite. Dabei Hüfte schnell nach vorne schieben. Durch den Hüftschub wird das Boot nicht nur zusätzlich beschleunigt, sondern auch der Schwerpunkt nach hinten verlagert, der Bug entlastet und dadurch etwas angehoben. Jetzt hat die Strömung nicht mehr so viel Angriffsfläche, um den Bug mit sich stromab zu reißen. Man kommt weiter in die Hauptströmung hinaus.
Credits
Inhaltliche Basis des Beitrags ist der Bericht von Jan Kellner aus dem Kanumagazin 1997. Die Fotos stammen von Tim Heide und Lutz Rößiger, aufgenommen an der Chemnitz und Roten Weißeritz im Frühjahr 2021. Paddler sind Martin Achleitner und Sven Schellin. Das eingesetzte Boot ist ein
Anfibio Revo CL.